Wenn wir durch
eine Zusammenschau des bisher Gesagten, eine Theorie betreffend das
proximative Alter des Schamanismus ableiten wollen, müssen wir uns an die
Vorfrage erinnern, die wir im Teil 1 aufgeworfen haben. Wir brauchen also eine
möglichst klare Antwort auf die Frage:
Was sind die Eigenschaften, die den Menschen ausmachen?
Da
der erste Schamane der Vorzeit und seine Artgenossen Vorläufer des heutigen Menschen gewesen sind,
müssen sie notwendig mehrere der von uns genannten Eigenschaften aufgewiesen haben. Sie
müssen
zumindest mit dem Gebrauch des Feuers vertraut gewesen sein, in sozialen
Gruppen gelebt und eine einfache Kultur (Jäger und Sammler) und Sprache
ausgebildet haben.
Da der
Schamanismus aus dem Animismus hervorgegangen ist, müssen sie überdies
bereits über gewisse kognitive Fähigkeiten verfügt haben. Sie müssen
geistig in der Lage gewesen sein, das Konzept einer Welterklärung zu
entwickeln, die von der Beseeltheit aller Natur ausgeht. Und sie müssen
ferner dazu
befähigt gewesen sein, über ihre animistische Weltsicht miteinander zu kommunizieren. Um ein derartiges, geistiges Modell erschaffen zu
können, müssen die ersten Schamanen bereits über ein ausgeprägtes
Selbstbewusstsein verfügt haben. Sie müssen notwendig auch zur Kontrolle
ihres willentlichen Handelns befähigt gewesen sein, denn ohne diese
Voraussetzung ist jede schamanische Arbeit undenkbar. Wir dürfen auch annehmen, dass die ersten Schamanen die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zeitlich zuordnen konnten und damit
bereits ein Bewusstsein betreffend die Vergänglichkeit ihrer eigenen Existenz
erlangt hatten.
Im Gegensatz
zu diesen typisch menschlichen Eigenschaften und Fähigkeiten, bildet die Kenntnis der
Schrift keine Voraussetzung, um das proximative Alter des Schamanismus näher
zu bestimmen.
Die ersten
Schriftzeichen entstanden etwa um 9000 v. Chr, dh im Neolithikum, und die
erste Schrift noch später. Der Mensch war zu dieser Zeit bereits sesshaft
geworden und betrieb Ackerbau, Viehzucht und Subsistenzwirtschaft. Der
Schamanismus stand aber während dieser relativ jungen Epoche
auf allen Kontinenten der Erde schon in voller Blüte.
Wir suchen
nach dem ersten Auftauchen des Schamanismus bei den Jägern und Sammlern
der Altsteinzeit (Paläolithikum) und werden dort in der stammesgeschichtlichen
Epoche des HOMO ERECTUS fündig, die etwa vor 1.000.000 Jahre ihren Anfang
genommen, und bis 30.000 Jahre vor unserer Zeit gedauert hat.
Für mich ist
der frühe HOMO ERECTUS jene Art Mensch, welche alle Eigenschaften aufwies, die eine notwendige Voraussetzung
für die
Entstehung des Schamanismus bilden.
Der HOMO
ERECTUS kannte nicht nur den Gebrauch des Feuers und der Steinwerkzeuge,
sondern er bewohnte Höhlen und lebte als Jäger und Sammler in sozialen
Gruppen.
Sein Gehirnvolumen betrug bereits 1000ccm, was auf seine
Intelligenz schließen lässt. Seine Neugier und seine kognitiven Fähigkeiten
ermöglichten es ihm viele Jahrhunderte nach seinem Auftreten, den Kontinent
Afrika zu verlassen und bis nach Asien vorzudringen.
Wenn wir uns
zudem in Erinnerung rufen, dass der HOMO ERECTUS auch der Hersteller der
‚Venus von Berekhat Ram’ und ihres Gegenstückes, der ‚Venus von Tan-Tan’,
gewesen ist, dann kann man anhand des Alters dieser sensationellen Fundstücke
auch auf das hohe Alter des Schamanismus schließen.
Diese beiden
Funde (siehe Teil 3) sind in der Zeit zwischen 800.000 bis 220.000 v. Chr.
entstanden. Und dieser Zeitrahmen erscheint mir auch für die Entstehung des
Schamanismus sehr wahrscheinlich. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern, musste
der Mensch dieser Epoche bereits über eine Qualität des Bewusstseins verfügt haben,
welche seine Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit erweiterte. Dieser Umstand
erscheint mir als die wichtigste
Voraussetzung für das Auftreten des Schamanismus. Die Ursache dieser
Bewusstseinserweiterung werde ich in Teil 5 näher erläutern.
Es verdient vielleicht der Erwähnung, dass
der
eigentliche Zweck dieser beiden ältesten Venusfigurinen von Berekhat Ram und
Tan-Tan der Altertumsforschung
bis heute unbekannt ist.
Bezüglich
der Venusfiguren aus viel jüngeren Epochen, wie z.B. der Venus von Willendorf
(25.000 Jahre vuZ, siehe Foto links), der Venus vom Galgenberg (30.000 Jahre
vuZ), Venus von
Savignano
(18.000 bis
25.000 Jahre vuZ, siehe Foto unten), Venus von Dolni Věstonice (25.000 bis
29.000 Jahre vuZ) und bei vielen anderen Figurinen, kennt hingegen die
Fantasie der Altertumsforscher keine Grenzen.
Manche
erblicken darin sogar ein Pin-up Girl des Altertums (???),
und andere ein weibliches Schönheitsideal des Menschen (???) dieser Zeit, der
wegen der Eiszeit oft ausgehungert gewesen sein musste und deshalb die
üppigen, weiblichen Formen in diesen Figuren überidealisiert hätte (???).
Ich
persönlich kann mich derartigen Überlegungen nicht anschließen.
Vielmehr nehme
ich an, dass all diese kleinen Venusfiguren sowie
ihre beiden ältesten Verwandten, die ‚Venus von Berekhat Ram’ und die ‚Venus von
Tan-Tan’ einen schamanisch-magischen Zweck gehabt
haben dürften.
Vielleicht
handelt es sich dabei um Totems, dh um erste figürliche Darstellung
eines geistigen Wesens, von dem ein Stammesgenosse oder eine bestimmte
prähistorische Stammesgesellschaft (Ahnenkult) abstammt. Totems wurden zu
Ritual- und Kulthandlungen in vielen schamanischen Gesellschaften eingesetzt
und gelten als die Vorläufer der Krafttiere, Schutzgeister und persönlichen
Helfer (Individualtotemismus) des heutigen Schamanen.
Jedermann, der etwas von
Ähnlichkeitsmagie (Sympathische Magie)versteht, wird sofort an letztere
erinnert, wenn er die jüngeren Venusfiguren betrachtet. Meist handelt es sich
dabei um sehr üppige, weibliche Figuren, deren primäre Geschlechtsmerkmale
oft überbetont, und deren Gesicht überhaupt nicht stilistisch dargestellt
wurde.
Den Zweck
dieser Figuren und Figürchen, die in vielen Jäger- und Sammlergesellschaften
entstanden sind, erblicke ich in ihrer Verwendung bei schamanischen Ritualen. Ich
bin der Auffassung, dass diese bei schamanischen Jagd-, Initiations- und
Fruchtbarkeitsritualen oder als Totem im Ahnenkult eine signifikante Rolle spielten.
Da Ackerbau
während
ihrer Entstehungszeit noch nicht betrieben wurde, konnten sich alle archaischen
Fruchtbarkeitsrituale freilich nur auf die Vermehrung des Nachwuchses innerhalb der
eigenen Stammesgemeinschaft gerichtet haben. Zahlreiche Nachkommen waren in
diesen längst vergangenen Zeiten mit Sicherheit sehr erwünscht, zumal sie nicht
nur den Fortbestand des eigenen Stammes gewährleisteten, sondern auch die
Versorgung älterer Stammesmitglieder.
Der
Umstand, dass der Neandertaler zwischen 180.000 bis
30.000 Jahren vuZ bereits Begräbnisrituale kannte und damit über einen
ausgeprägten Ahnenkult einschließlich Totemismus verfügt haben musste, wird heute auch von der
Altertumswissenschaft angenommen.
Die vom Neandertaler hergestellte ‚Maske von La Roche-Cotard’ (siehe Teil 3) ist
ein Beleg für dessen bereits deutlich ausgeprägten kognitiven Fähigkeiten. Es ist daher anzunehmen, dass
in den Jäger und Sammlergesellschaften der Epoche des Neandertalers der
Schamanismus bereits in Blüte stand.
Und was für den Neandertaler gilt, trifft mit
Sicherheit auf den teils zeitgleich lebenden HOMO SAPIENS zu. Die Entdeckungen
der Steindekorationen in der Blombos Höhle,
Südafrika (siehe Teil 3), liefern uns dafür den Beweis, denn sie sind
etwa 70.000 v.Chr. entstanden. Der Künstler, der diese Steine dekoriert hat,
war der HOMO SAPIENS, der weise Mensch, dessen biologischer Gattung Du und
ich zugehören.
Schlussfolgerung
bezüglich des Alters des Schamanismus
Die hier vorgestellte Theorie lässt zumindest die hohe Wahrscheinlichkeit
erkennen, dass der Schamanismus viel älter ist, als gemeinhin angenommen
wird.
Sofern das Alter jener ältesten Venusfiguren von der Wissenschaft richtig
datiert wurde, kann mit hoher Wahrscheinlichkeit auch davon ausgegangen
werden, dass die zarten Anfänge des Schamanismus in der Altsteinzeit in den
Jäger- und Sammlerstämmen des HOMO ERECTUS liegen
müssen.
Wenn wir im nächsten Teil zusätzliche Hinweise dafür finden, dass zu dieser
frühen Zeit die wichtigste Bedingung für das Auftauchen des Schamanismus
erfüllt gewesen ist, nämlich die erforderliche Erweiterung des
Bewusstseins in den Stammesgesellschaften des HOMO ERECTUS, dann würde das die hier vorgestellte
Theorie zusätzlich untermauern. Die ‚Geburtsstunde’ des Schamanismus könnte dann
durchaus vor etwa
800.000 Jahren geschlagen haben.
|